Anna Haag - aus dunkler Zeit zum demokratischen Wiederaufbau

Lesung „Die geheimen Tagebücher der Anna Haag“ im Beruflichen Schulzentrum

Es kommt einer Sensation gleich, die Studie von Edward Timms mit Ausschnitten der zwanzig Bände umfassenden geheimen Tagebücher, die, die in Althütte geborene Anna Haag von 1940 bis 1945 führte. Der englische Germanist und Kulturhistoriker, bekam die Zustimmung zur Recherche von Haags Enkelin Sabine Brügel-Fritzen. Die Originale liegen seit über 70 Jahren im Staatsarchiv Stuttgart und fanden nach dem Krieg bei keinem Verlag Beachtung. Timms Assistentin Jennifer Holleis, die aus den Tagebüchern vorlas, kopierte sie und half bei der Entschlüsselung der Handschrift. Die Moderation der Lesung hatte die Verlegerin Sonja Hintermeier, das Grußwort übernahm die Schulleiterin der Anna-Haag-Schule, Ulrike Gebauer. Initiiert wurde der Abend von der Bibliotheksleiterin Christiane Engelmann-Pink.

Mit seinem Buch liefert Timms eine Analyse dieser zeitgenössischen Quelle und beleuchtet gleichzeitig Anna Haags Weltanschauung und ihren Werdegang. Die Zeit des Nationalsozialismus verbrachte die mit Schreibverbot belegte Pazifistin, Feministin und Sozialdemokratin (1888-1982) in Stuttgart. Von zentraler Bedeutung ist die Schilderung der Wandlung der Gesellschaft und der Niedergang sämtlicher moralischer Werte. Fassungslos, aber nicht sprachlos, schrieb sie ihre Beobachtungen auf. „Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“, so Anna Haag 1941. Sie haderte damit, dass sie außer diesen Aufzeichnungen den Nazis wenig entgegenzusetzen hatte und stellte sich immer wieder die Frage, ob sie feige sei. Am 6. Januar 1942 schrieb sie: “ Die moralische Abwärtsentwicklung des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit, das fast dürstige Aufsaugen der falschen Ideale (Rasse, Herrenmenschentum, Weltmission, usf.) mit all ihren scheußlichen Folgen beweisen, wie hörig ein Volk werden kann, dessen Gliedern jede Möglichkeit genommen ist, selbst zu denken. Ein Mensch, ein Parteiapparat denkt für alle. Alle Gedanken werden filtriert und in die Gehirne hineingegossen. Und da es gleichzeitig so eingerichtet ist, dass derjenige, der sich diesem „Gedankengut“ widersetzt, verhungern oder im KZ oder Zuchthaus krepieren muss, so legen die allermeisten den eigenen Denkapparat gehorsam still, denn man will ja leben und lieben und essen und trinken.“

Doch sie gab sich selbst ein Versprechen: Wenn sie diese Zeit überlebe, werde sie sich aktiv am demokratischen Wiederaufbau beteiligen, was sie auch getan hat. Sie war eine von zwei Frauen im ersten Landtag von Württemberg-Baden und ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland das Recht zur Kriegsdienstverweigerung festgeschrieben steht.

Die geheimen Tagebücher beantworten nicht alle Fragen, machen aber Lust, sich weiter mit dieser beeindruckenden Frau zu beschäftigen.

 

 

Von Jutta Rieger-Ehrmann, Lehrerin an der Anna-Haag-Schule Backnang